Architekturgeschichte

Poesie der Häuslichkeit
Heinrich Straumers Pfarrhaus in Dahlem

Text: Ulrike Alber-Vorbeck

Als das vom Architekten Heinrich Straumer entworfene Pfarrhaus im März 1910 vom ersten Pfarrer der jungen evangelischen Gemeinde Dahlem bezogen wurde, stand es neben der Dorfkirche St.-Annen noch recht allein in der wenig bebauten Gegend. Durch viele entwurfliche Bezüge in Materialität, Farbigkeit und städtebaulicher Einbindung, bildete das Haus nun zusammen mit der mittelalterlichen Kirche ein malerisches Ensemble im historischen Dorfzentrum. Der Backsteinbau ist ein frühes Werk der Landhausarchitektur der Moderne. Er galt als neu und unkonventionell durch seine Schlichtheit sowie handwerklichen Details bei gleichzeitiger Abwesenheit von historisierendem Dekor und erlebte nach seiner Fertigstellung schnell Beachtung. Der Bau wurde in verschiedenen Architekturzeitschriften und Publikationen aufgenommen und machte den jungen Heinrich Straumer bekannt. In den folgenden Jahren prägte er durch seine traditionsbezogenen Bauten im Stil der Reformarchitektur, darunter weitere Landhäuser, das nun schnell wachsende Dahlem.

Bereits ab den 1870er Jahren wurden entlang der neu erschlossenen Bahnstrecken um Berlin die ersten Villenkolonien im Grünen gegründet. Eine bisher ungekannte wirtschaftliche Dynamik ab Mitte des 19. Jahrhunderts hatte zu einem enormen Bevölkerungswachstum und binnen weniger Jahrzehnte zur Entstehung der großflächigen Mietshaus-Areale der Gründerzeit geführt. Mit dem Aufstieg des Bürgertums entwickelte sich auch ein Bedürfnis nach neuen Wohnformen und Lebensweisen jenseits der städtischen Enge.

Das knapp 200 Einwohner zählende Dorf Dahlem allerdings war noch bis zur Jahrhundertwende vollkommen ländlich geprägt. Der Domänenbezirk umfasste das Gutshaus, Stallungen, Wirtschafts- und Wohngebäude, eine Mühle und ein Gasthaus, umgeben von Äckern. Erst ab 1901 wurde das zum Preussischen Staatsfiskus gehörende Domänen-Gebiet parzelliert und erschlossen.

Der erste Bebauungsplan des noch dem Historismus verpflichteten Architekten Walter Kyllmann wurde ab 1907 durch den Architekten Heinrich Schweitzer weiterentwickelt, der in seinen Plänen die besonderen und abwechslungsreichen topographischen Gegebenheiten, Baumbestände und Wasserläufe betonte. Geplant wurden großzügige Villenterrains und weitläufige Grünanlagen sowie der Ausbau eines akademischen Viertels mit Museen und Wissenschaftsbauten. 1907 wurde der Botanische Garten eröffnet, 1911 die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründet. Allmählich wuchsen zwischen Korn- und Kartoffelfeldern um den alten Dorfkern der Gutssiedlung immer mehr vornehme Häuser und repräsentative Bauten empor und die Bewohnerzahl stieg.

1908 wurde daher die Dahlemer Dorfkirche nach 200-jähriger Zugehörigkeit zur Kirchengemeinde Deutsch-Wilmersdorf, wieder zur selbständigen evangelischen Gemeinde erhoben. Auf die neu eingerichtete Pfarrstelle berief man den Theologen und Missionsprediger Robert Gelfert (1869-1921).

Heinrich Straumer (1876-1937) war 1903 aus Dresden nach Berlin gekommen, um als Assistent Paul Wallots am Bau des Reichstagspräsidentenpalais zu arbeiten. 1907-08 hatte er sich mit mehreren schlichten Landhäusern in Frohnau und dem Bau der Kirche zum Heiligen Kreuz in Wilmersdorf hervorgetan und wurde zu dem im engeren Kreis ausgeschriebenen Wettbewerb für das Dahlemer Pfarrhaus eingeladen.

Während in den städtischen Bezirken Berlins bereits große Gemeindehäuser entstanden, genügte für die noch kleine Vorortgemeinde ein kombiniertes Raumprogramm. Es umfasste die Wohn- und Amtsräume des Pfarrers und seiner Familie, einen Konfirmanden- oder auch Gemeindesaal und die Wohnung des Gemeindebediensteten. Das Pfarrhaus mit seinen privaten und öffentlichen Bereichen war auch ein sozialer Mittelpunkt der Gemeinde.

In seinem baukünstlerischen Programm verwirklichte Heinrich Straumer die Ideen der Landhausbewegung um den Architekten und einflussreichen Theoretiker Hermann Muthesius (1861-1927). Nach einem mehrjährigen Aufenthalt als Kulturattaché in London formulierte Muthesius 1903 in seinem Hauptwerk „Das englische Haus“ ein Plädoyer für die Überwindung der auf Repräsentation zielenden Stilarchitektur des Historismus. In Anlehnung an die Arts and Crafts Bewegung trat er stattdessen für eine neue, auf Funktionalität beruhende Sachlichkeit ein. Ein Haus sollte das Charakteristische seiner Bestimmung spiegeln und sich in die baulichen und landschaftlichen Bedingungen seiner Umgebung einpassen. Bequemlichkeit, technischer Komfort und die Grundrissentwicklung aus den Bedürfnissen heraus bildeten den wesentlichen Kern einer neuen, reformierten Wohn- und Lebenskultur.

Eine frühe Zeichnung Heinrich Straumers zeigt, wie er die örtliche Situation aufgriff und bereits im Entwurf die anspruchsvolle Nachbarschaft der künstlerisch bedeutenden Annenkirche als Bezugspunkt für seinen Neubau verstand. Er verband beide Gebäude, indem der die aus Findlingsblöcken geschichtete Kirchhofsmauer in der Gartenmauer fortsetzte.

Die Tradition märkischer Backsteinkirchen spiegelt sich wider in der Materialität und Farbigkeit des Hauses aus rotem, handgestrichenen Ziegelstein und durch die Verwendung traditioneller Steinverbände wie Fischgrätenmuster. Auch das steile, mit holländischen Pfannen gedeckte Satteldach mit holzverschalten Giebeln korrespondiert mit dem der nahegelegenen Kirche. Die aufgesetzten Schornsteine und Dachgauben verorten das Landhaus erkennbar im englischen Stil. Der Bau ist klar und schlicht und verzichtet auf reiches Dekor, besitzt dafür besondere und schöne Details wie Türklinken, Beschläge oder Fenstergitter, die Heinrich Straumer selbst entwarf. Die handwerkliche Ausführung hatte dabei einen hohen Wert. Türen und Sprossenfenster sind weiß gestrichen und besitzen unterschiedliche Formen. Darunter ist der mehrfach verwendete, pittoreske Parabelbogen besonders auffällig, der durch seine eigenwillige Form die Geradlinigkeit bricht und bereits an die Formensprache des Expressionismus erinnert.

Das Haus besitzt einen winkelförmigen Grundriss, dessen Hof sich nach Süden zu Kirche und Kirchhof hin öffnet. Ein großer Runderker markiert das Amtszimmer des Pfarrers. Von dem erhöhten Hof aus, führt eine Treppe zum Eingang; einem hölzernen Windfang im Hochparterre. Hier betritt man die rot getünchte und mit roten Ziegelplatten ausgelegte Diele des geräumigen, in hohem Maß Behaglichkeit und Zweckmäßigkeit ausstrahlenden Hauses.

Privates Leben und kirchliches Amt griffen ineinander, waren aber gleichzeitig funktional und räumlich voneinander trennbar. So wurden Besucher in ein kleines Wartezimmer geführt, während der Pfarrer sein Amtszimmer auch auf Nebenwegen erreichen und von dort aus seine Gäste der Form entsprechend einlassen konnte. Die zum rückwärtigen Garten gelegenen, miteinander verbundenen Wohnräume verteilen sich um die Diele. Im blaugestrichenen Speisezimmer befindet sich der Übergang zum Garten in Form einer großen Loggia. Die Einbeziehung des Außenraums bildet eine wesentliche Komponente des Landhausentwurfs. Auch die Anordnung eines Küchentrakts auf der Wohnebene war neu. Dafür entstand im Souterrain Platz für einen Gemeindesaal und eine Wohnung mit separaten Eingängen. Alle Fassaden des Gebäudes sind handwerklich detailliert durchgestaltet. Eine repräsentative Zurschaustellung der Straßenfassade gibt es nicht. Haus und Garten bilden eine Einheit; der Garten ist die harmonische Fortsetzung des Hauses im Freien.

Der Journalist Anton Jaumann urteilte 1914 in einem Artikel über Heinrich Straumers Landhäuser:

„Es ist Straumer geglückt, seine Bauten bis ins letzte lebendig zu machen, ohne sonderlich über die Aufwendungen der reinen Zweckform hinauszugehen. Straumers Türen, Fenster, Wände, Erker sind selten reicher, als die einfachsten Typen. Unter den einfachsten Formen sind aber mit instinktiver Sicherheit die gefunden, die am stärksten von der Poesie der Häuslichkeit getränkt sind. Seine Häuser haben keine leere Fläche, keine gleichgültige Einzelheit. Die Bauglieder sind künstlerisch fein geformt und verteilt. Wände, Dach, Schornstein, Erker, Treppe stehen wie Strophen eines Liedes zusammen.“

Anton Jaumann, Wasmuts Monatshefte für Baukunst und Städtebau, 1, 1914/15, S. 513

In den folgenden Jahren bis zum Kriegsausbruch 1914 avancierte Heinrich Straumer zum wichtigsten Protagonisten des Berliner Landhausbaus neben Hermann Muthesius, wenn er auch nicht der überregionalen Elite zugerechnet werden kann, da er kaum publizierte. Anregung fand er auf seinen Reisen nach England in den Bauten der Architekten Baillie Scott und Edwin Lutyens ebenso, wie im norddeutschen Kirchenbau des Mittelalters. Er gehörte zu den progressiven Architekten des Kaiserreichs, der seine eigene Handschrift entwickelte und durch seine prägnanten Bauten zur Verbreitung der modernen Bewegung beitrug. Als angesehener Vertreter einer traditionalistischen Reformarchitektur war er bis in die 1930er Jahre Teil der Berliner Architektenszene, Mitglied des Deutschen Werkbunds, des Bundes Deutscher Architekten BDA und der Akademie der Künste. In den 1920er Jahren wandte er sich zunehmend dem Bau von Geschäftshäusern zu. Sein bekanntestes Werk ist der Berliner Funkturm, der 1924-26 auf dem neuen Messegelände entstand.

In seiner kleiner Schrift Tradition und Stil-Wiederholung formulierte Heinrich Straumer 1912 seine Position als Reformarchitekt in Abgrenzung zum Historismus wie folgt:

„Ohne Tradition ist eine gedeihliche Weiterentwicklung in Kunst und Handwerk nicht denkbar. Soll die Kunst ein Ausdruck des Geistes ihrer Zeit sein, so muss der Kunstschaffende wirken, dass der Geist einer Zeit die Konsequenz aus einer vorangegangenen Entwicklung ist. […] Das gesamte Leben der Neuzeit hat neue Bedingungen geschaffen und dem Handwerk sind Maschinen, Techniken und Werkzeuge zur Seite getreten, die notwendigerweise den Gegenständen einen anderen Ausdruck und andere Formen geben müssen. Das gesamte Leben unserer Zeit hat seine Energie verdoppelt und es entspricht einer folgerichtigen Entwicklung, wenn die neuzeitlichen Formen einen Ausdruck dieser gesteigerten Energie enthalten. […] Eine gesunde Tradition kann nie mit bloßer Stilwiederholung identisch sein! Die alten Stile waren gut, aber ihre Wiederholung wirkt tödlich. Historische Stile zu kopieren ist unhistorisch.“

Heinrich Straumer: Tradition und Stil – Wiederholung, in: Innendekoration 23, 1912, Heft 7, S. 247.

Literatur

  • Berlin und seine Bauten IV, Bd. C, Einleitung, S. 90/91, S. 315ff
  • Heinrich de Fries (Hg.), Moderne Villen und Landhäuser, Berlin, 1924, S. 8, 40-59
  • Helmut Engel, Villen und Landhäuser, 2001, S. 59
  • Haenel/Tscharmann, Das Einzelwohnhaus der Neuzeit, Bd. 2, 1910, S. 171-175
  • Sigrid Hofer, Reformarchitektur 1900-1918, 2005
  • Anton Jaumann, Ländliche Häuser von Heinrich Straumer, in: Deutsche Kunst und Dekoration 51, 1910, S. 313-325
  • Anton Jaumann, Heinrich Straumer, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst 1, 1914, S. 492-540
  • Angelika Kaltenbach, Heinrich Straumer, in: Berlinische Lebensbilder, Bd. 11, Baumeister, Ingenieure, Gartenarchitekten, Uwe Schaper (Hg.), Berlin, 2016, S. 259-272
  • Richard Klapheck, Moderne Villen und Landhäuser, Berlin, 1913, S. 144-147
  • Landesdenkmalamt Berlin (Hg.), Denkmale in Berlin, Bd. Dahlem, 2011, S. 83-84
  • Fritz Stahl, Heinrich Straumer, in: Neue Werkkunst, 1927
  • Heinrich Straumer, Tradition und Stilwiederholung, in: Innendekoration 23, 1912, S. 247
  • Angelika Stubert, Heinrich Straumer, 1995