Nutzungsgeschichte

Pfarrhaus, Friedenszentrum, Erinnerungsort

Repräsentatives Pfarrhaus und Friedenszentrum, Wohngemeinschaft und Geschäftsadresse, Unterkunft für Geflüchtete und Beratungsstelle für Kriegsdienstverweigerer, Kindertagesstätte oder außerschulischer Lern- und Erinnerungsort; das heutige Martin-Niemöller-Haus erfüllte im Laufe seiner Jahre viele Funktionen. Seit über vier Jahrzehnten trägt das 1910 ursprünglich als Pfarr- und Gemeindehaus errichtete Gebäude den Namen seines bekanntesten Bewohners. Die Auseinandersetzung mit Martin Niemöller und der eigenen Ortsgeschichte kann spätestens seit dieser Zeit als profilbildend für die Evangelische Kirchengemeinde Berlin-Dahlem angesehen werden.

Für die Evangelische Kirchengemeinde Berlin-Dahlem gehört die Erinnerungsarbeit wesentlich zum Selbstverständnis. Mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte Niemöllers bedeutet dies, den Umgang mit Projektionen oder gar Konstruktionen seiner Person zu lernen und zu meistern. Die jeweils zeitgenössischen Beschreibungen Niemöllers als Symbol- oder Galionsfigur gilt es, in der Geschichtsdarstellung angemessen zu kontextualisieren, eine retrospektive Ikonisierung Niemöllers kritisch zu hinterfragen. Die Arbeit am heutigen Martin-Niemöller-Haus Berlin-Dahlem lebt derweil nicht aus der Beschäftigung mit der Person, sondern aus einer konsequenten Haltung zur eigenen Geschichte.

Wahr ist, dass die Gesinnungen der rechtsnationalistischen Kreise, in denen sich Niemöller nach dem Ersten Weltkrieg bewegte, erschrecken, seine Position zur Judenverfolgung im Nationalsozialismus und sein fehlender Einsatz für die vielen Opfer des NS-Regimes außerhalb seines Blickfeldes ernüchtern müssen und die von anderen und ihm selbst beförderten Darstellungen deutscher Geschichte gegen die fortschreitenden Forschungserkenntnisse nicht bestehen. Wahr ist auch, dass der Emanzipationsprozess Dahlems zu einem Zentrum der Bekennenden Kirche und zu einer mündigen Gemeinde im Nationalsozialismus nicht zu beschreiben ist, ohne Niemöllers Einstehen gegen den Arierparagraphen in der Kirche und nicht denkbar wäre ohne seine mitreißenden Predigten und ohne seinen Status im NS-Staat als führende Persönlichkeit der kirchlichen Opposition. Niemöllers Biografie und Wirken bleibt essentiell für den Dahlemer Kontext – sowohl für die Zeit des Nationalsozialismus als auch für die Zeit der Friedensbewegung. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit am Martin-Niemöller-Haus richtet den Blick jedoch auf die gesellschaftliche Verantwortung für die Zukunft. Dies ist nach einer mehrfachen Widmung des Hauses durch die Kirchengemeinde heute deutlicher denn je als gesellschaftspolitische Aufgabe ersichtlich:

Einmal 1980 für ein Friedenszentrum vor dem Hintergrund der friedensbewegten Zeit; hier stand vorrangig Niemöller als Galionsfigur im Kampf gegen den Atomtod Pate, während der oppositionelle Dahlemer Pfarrer Niemöller als der Beginn eines Weges hin zu einer selbstbewussten und verantwortlichen Gemeinde beschrieben wird.

Ein zweites Mal 2007 für einen didaktischen Ort vor der Herausforderung, die Erinnerungsarbeit für eine Zeit nach der Zeitzeugenschaft zu wappnen; hier rückte Niemöller im Spiel zwischen der gefeierten Symbolfigur des „anderen Deutschlands“ und des brüchigen „Helden“ in den Fokus des Vermittlungsgedankens.

Zum dritten Mal 2016 mit dem Ziel eines zeitgemäßen Lern- und Erinnerungsortes vor Augen, der 2019 seine Arbeit aufnehmen sollte; hierbei bildeten die Selbstreferenzialität der Gemeinde und die Zusammenführung der Erfahrungs- und Traditionslinien aus der NS-Zeit und der Nutzungsgeschichte des Ortes als Friedenszentrum die neuen Grundlagen der heutigen Arbeit am Haus. Niemöller tritt hier in der Beschreibung als Kirchenkämpfer auf und als solcher als Referenzpunkt in einem Spektrum von Widerständigkeit, die am Martin-Niemöller-Haus nicht mehr nur in Bezug auf die historische Dimension verhandelt wird.

Die Programmatik heute ergibt sich demnach aus einer konsequenten Haltung zur eigenen Vergangenheit heraus. Der christlich-jüdische Dialog etwa, die Arbeit mit Geflüchteten, der Einsatz für Themen der Nachhaltigkeit, die Stärkung demokratischer Werte und Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft oder das Engagement gegen Antisemitismus, Rassismus und jede Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sind in Dahlem Aufgabe und Verpflichtung. „Denn christliche Nächstenliebe darf nie wieder nur die eigene Religion, Nation oder Familie meinen. Wir bekennen mit der Barmer theologischen Erklärung, dass Gottes Wort über alle menschliche Autorität gestellt ist.“

Literaturhinweis

Ein ausführlicher Beitrag zur Nutzungsgeschichte des Hauses ist hier zu finden:

Arno Helwig: Die Rezeption Niemöllers am historischen Ort – Erinnerungsarbeit am Martin-Niemöller-Haus Berlin-Dahlem, in: Lukas Bormann, Michael Heymel (Hrsg.), Martin Niemöller – Brüche und Neuanfänge. Beiträge zu seiner Biographie und internationalen Rezeption (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte, AKIZ.B), Vandenhoeck& Ruprecht: Göttingen 2023, S. 105-118.